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VOM OSTEN -
LEARNING FROM THE EAST
Ein Interview mit ROLAND RAINER
Wien,
Oktober 2001
intro:
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Was wir im Osten lernen können
Die Frage der Bedeutung iranischer Architektur
möchte ich nicht nur auf den Iran reduzieren. Vielmehr
gehört diese Frage zu einem größeren Komplex,
der unsere Beziehung zu den östlich anschließenden
Nachbarn - den unmittelbar anschließenden! - betrifft.
Ich empfinde es oft als merkwürdig, dass wir bei kulturellen
Studien der Architektur und des Städtebaus unendlich viele
Details über den romanischen Bereich, über Nord- bis
Süditalien, die "Antike" ganz genau kennen und
diese Zone als eine unmittelbar an uns anschließende,
bzw. uns unmittelbar berührende betrachten - während
wir hingegen die simple Tatsache, dass man ohne Überschreitung
von Gebirgen mit ein paar Stunden Auto- oder Bahnfahrt einen
anderen Kulturkreis erreicht, der in vieler Hinsicht anregend
, interessant aber - merkwürdigerweise - neuartig erscheint.
Nach einem Tag Autofahrt sieht man in Banja Luca die erste Moschee
und weiter östlich sah man in Skoplie vor der Zerstörung
der Stadt noch die Reste der Karawanserei, in der die Kamele
der Seidenstraße die letzte Station hatten. Wer diesen
Bereich als Einheit sieht mit den anschließenden Gebieten
der Türkei und Kleinasiens erkennt viele, wichtige Zusammenhänge.
Was mir bei Besichtigungen dieses kleinasiatischen
Raumes immer wieder aufgefallen ist - durchaus und sehr im Gegensatz
zu romanisch beeinflussten Bereichen, sind weniger Architekturdetails
als vielmehr die grundsätzliche Art des Wohnens, der Stadt.
Ein klassisches Beispiel ist Sarajewo.
Sarajewo ist eine dezentraliesierte Stadt aus kleinen Einheiten,
die in der Landschaft, auf den Hügeln verstreut sind, während
die zentralen Einrichtungen in einem sehr großzügig
angelegten Basar vereint sind, der mit seiner Vielfalt des Angebotes
in vieler Hinsicht an moderne Kaufzentren erinnert. Im Gegensatz
dazu sind die Wohnhäuser in Form weitgehend selbständiger
kleiner Hofhäuser angelegt. In Sarajewo dominiert ein Haustyp,
der aus ebenerdigen Höfen mit Wirtschaftsgebäuden
und der "Winterküche" ausgestattet ist, während
sich im Obergeschoß in sich geschlossene Wohn-Schlafeinheiten,
jede mit Kochgelegenheit, einem Bad und Einbauschränken
befinden, sodass der Eingang unabhängig von den unmittelbaren
Nachbarn Selbständigkeit bewahrt und uneingesehen bleibt.
Von mehreren solcher Einheiten erreicht man die überdeckte
Mondscheinterrasse, von der aus man gemeinsam über die
Landschaft und die Besiedlung blickt. Alles in allem ein konzentriertes
Sinnbild von Privatheit, durchdachter Funktion, wie sie sonst
kaum in dieser Klarheit zu finden ist. Man vergleiche die Grundrisse
z.B. mediterraner Stadtwohnhäuser, die nach außen
hin eindrucksvolle Monumente bilden, sich jedoch innen mit vergleichsweise
kleinen, bescheidenen, anonymen Wohnungen begnügen.
Bemerkenswert erscheint mir nicht zuletzt,
wie in den Basaren, besonders deutlich in Sarajewo, alle öffentlichen
Einrichtungen, auch jene des Handels, in überlegter Disposition
zu finden sind: die Gewerbe in einzelnen Gassen konzentriert,
ausgeprägtere größere Bauten für Hotels,
und große gewerbliche Einheiten daneben - alles in allem
ein perfekt organisiertes Zentrum, wie es in den neuen westlichen
Kaufzentren nicht erreicht worden ist.
Istanbul
Der Basar von Istanbul z.B. ist berühmt
wegen seiner Vielfalt, seiner Räumlichkeit, dem Reichtum
an Höfen, Brunnen usw. Hier hat die Frage des Stadtzentrums
vor einigen hundert Jahren eine perfekte Form gefunden, von
der man nur lernen kann. Ich bin der Meinung, daß bei
unserer Unterhaltung über die Architektur und das Wohnungswesen
des Ostens sehr viel für unsere heutigen Probleme zu lernen
ist. Deshalb habe ich immer wieder Exkursionen auf den Balkan,
in die Türkei und nach Persien gemacht - nicht um dorthin
"westliche Errungenschaften" zu verpflanzen, sondern
um aus sehr reifen alten Kulturen Wesentliches für unsere
zukünftigen Fragen zu lernen. Das hat mit Denkmalschutz
nichts zu tun. Wir müssen die Gedanken erkennen, die hinter
den Formen stehen und zu diesen Formen geführt haben, und
wir müssen versuchen, ähnlich klar und funktionell
weiterzudenken.
Damit sind wir einen Schritt in den Iran
weitergegangen: Flugbilder von Isfahan, Yast und Kerman z.B.
zeigen Teppiche aus ebenerdigen Hofhäusern von einer unglaublichen
Konsequenz und Klarheit, die man unbegreiflicherweise in der
Städtebaugeschichte und Kulturgeschichte nicht beachtet,
nicht verstanden hat.
Was bedeutet es, wenn alle Häuser
einer großen Stadt, in der Hofhäuser weitgehend gleichen
Typus sind, jeder Hof mit einem Wasserbecken und einer Weinlaube
ausgestattet, wenn sich die Räume des Hauses konsequent
zu diesem inneren Hof wenden, die Zugänge zu diesen Höfen
immer so gestaltet sind, daß Einblick verhindert und Prvatheit
gesichert ist? Und wenn die Opfer für den "Verkehr"
auf Gassen beschränkt werden, deren Breite durch ein beladenes
Maultier bestimmt ist, wobei die "Überholspur"
auf die Ausweichstellen vor den Hoftoren begrenzt wird?
So wie im Inneren des Systems die öffentlichen
Bedürfnisse sparsam und sinnvoll befriedigt sind, so treten
im Äußeren andererseits die Zentren als eine eindrucksvolle
Gruppe hervor. So ist die grundsätzliche Spannung der Bereiche
Privatheit - Öffentlichkeit in städtebaulich perfekter,
räumlich und formal überzeugender Art zum Ausdruck
gebracht - bei einem Minimum von Raumverbrauch: Kein Quadratmeter
für "Vorgärten", "Bauwiche", für
sinnlose Abstände, für zu breite Verkehrswege - ein
Minimum an Raumverbrauch bei einem Maximum an funktioneller
Erfüllung. Und damit sind wir bei dem wichtigsten Prinzip
der modernen Architektur: nämlich bei dem sinnvollen Umgang
mit Raum und gleichzeitig bei überzeugender Zeichenhaftigkeit.
Über dem Meer der kleinen Hofhäuser mit ihren Pergolen
und Wasserbecken erheben sich weithin sichtbar nicht die mocernen
Hochhäuser, sondern die Minarette, die Kuppeln der Sakralräume
und der kommerziellen Zentren um die Basare zu einer klaren,
in jedem Detail aussagekräftigen Form.
Die Wirkung des Kontrastes wird bei aller
Strenge der Konzeption bis ins letzte Detail ausgeschöpft.
Das Braun des Lehms gegenüber türkisblauer Glasur
in den Moscheen, Spiegel und Gläser als kontrastierende
Elemente der Oberflächen. Man vergleiche die mehr oder
weniger chaotische Form, in der sich die Gesellschaft in einer
modernen Hochhausgroßstadt präsentiert.
Professor Dr. Dr. h.c. Roland Rainer
Architekt
Wien XIII, 2001-10-03
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